Scherbenmeer.


Falls für jede nicht erfüllte Erwartung ein Glas zerspränge, läge ich im Scherbenmeer. Ich breche meine Zelte hier ab, sehr viel früher, aber vor allem sehr viel schmerzhafter als gedacht. Zurück nach Deutschland, nicht in das große WG-Zimmer mit Balkon, in die neue Stadt, die darauf wartet entdeckt zu werden, sondern in die Klinik. Ich möchte vorher meinen Freunden tschüss sagen, sie ein noch einmal in den Arm nehmen, da ich weiß: Wir sehen uns so schnell nicht wieder. Europa ist klein, für eben mal einen Kaffee rumkommen, viel zu groß. Will so gerne, noch einmal, im Morgengrauen, Lieder singend, nach Hause torkeln, ein Wochenende im Wald verbringen, ausführlich quatschen und Zukunftswünsche austauschen. Kann das aber nicht. Die lebensmüden Gedanken werden lauter, der kalte Griff der Depression um meinen Hals fester, wie ich bis zum Abflug noch weiter atmen soll, weiß ich nicht. Für jede nicht erfüllte Erwartung zerspringt ein Glas und ich liege im Scherbenmeer.


Gänseblümchen.


Für die Tage an denen mir das Atmen schwerfällt, an denen ich nicht einmal weiß, ob ich noch atmen möchte, erarbeitete ich mit meinem Therapeuten einen Notfallplan. Ein wesentlicher Teil des eben solchen besteht aus dem Feiern der kleinsten Dinge. Ich stelle mir dann die Justin Bieber Fan Base vor, welche kreischend, „Justin I Love You“ Schilder haltend, versuchen bei dem Anblick ihres Idols, nicht in Ohnmacht zu fallen. Nur, dass sie nun mich bejubeln. Für jeden Atemzug, für jede kleinste Tätigkeit, der ich nachgehe. Ich bin aufgestanden, habe zwei Mahlzeiten eingenommen, Wasser getrunken, sogar ein bisschen lesen können. Die Biebs – Family schreit: „Go Nadja. You’ve got this girl!“. Mit den Rufen werden die lebensmüden Gedanken leiser. Und ich schaffe es meine Hausaufgabe aus der Therapie zu erledigen. Ich verlasse für einen kurzen Spaziergang das Haus und pflücke drei Gänseblümchen. Fast wäre meine Aktion gescheitert. Der alte, freundliche Mann von nebenan mäht den Rasen, ich springe ihm also fast vor den Rasenmäher, um meine Gänseblümchen noch pflücken zu können und er lächelt mich an. Das war schön.


Lavendelöl.


Schon beim Aufwachen merke ich, dass ich mich heute ein bisschen mehr in Ordnung fühle. Alles scheint tragbarer. Ich schaffe es noch immer nicht, wieder zu arbeiten oder überhaupt Schritte aus der Wohnungstür hinaus zu wagen, aber heute ist das okay. Ich schlafe viel, also sind meine Gedanken sehr viel langsamer, in einem sie betäubenden Nebel, sie nehmen mich nicht allzu sehr ein, kann besser mit ihnen alleine sein. Trage Lavendelöl auf, atme ein, atme aus und weiß, dass ich morgen noch da bin. Um dieses Wissen fehlt es mir manchmal. Dann habe ich Angst, das Atmen zu verlernen. Aber so schwierig es scheint, ich atme. Atme ein, atme aus und weiß, dass ich morgen noch da bin.


small victories.

Heute morgen benachrichtige ich meine Chefin über meine, tatsächliche, Gefühlslage. Versteckte die zwanghaften, immer gefährlicher werdenden Gedanken nicht mehr angestrengt hinter einem Lächeln. Ich skillte wie ein Weltmeister: Lavendelöl, Eiswürfel und meinen neu erworbenen als Pinguin verkleideten Knautsche-Ball. Sogar bis zum Supermarkt trugen mich meine Füße. Zum Abendessen gab's nicht nur Pommes, sondern auch Bibi und Tina Hörspiele. Davor: Notfall Skype-Session mit meinem Therapeuten. Heute habe ich überlebt. Und überleben, wenn man sich nicht sicher ist, ob man das eigentlich möchte und überhaupt noch kann, ist eigentlich kein "small victory", sondern ganz schön BIG.

Karussell.


Seit Tagen dröhnt derselbe Song aus den übersteuerten Lautsprechern meines Laptops. Der Text  entspricht exakt meiner Gefühlslage und auch die Musik, sagt mir irgendwo zu, sonst würde derselbe Song schließlich nicht seit Tagen aus den übersteuerten Lautsprechern meines Laptops dröhnen. Irgendwie ist es auch egal, was da genau vor sich her dudelt. Hauptsache es ist nicht ruhig. Stille ist gefährlich. Lässt mein Gedankenkarussell auf unvorhersehbare Geschwindigkeiten beschleunigen und nie mehr anhalten. Es dreht sich immer schneller, bis das alte Holz zu knarzen beginnt, die alte Farbe der Figuren, deren besten Zeiten längst vorüber, abblättert, Schrauben hinaus springen und das gesamte Gerüst unter lautem Ächzen schließlich zusammen bricht. Die Trümmer betrachtend, stehe ich handlungsunfähig daneben.


Guten Tag.


Hallo, mein Name ist Nadja, ich bin psychisch krank und werde deshalb bald meinen zweiten Klinikaufenthalt antreten. - So würde ich mich eigentlich niemandem vorstellen. Neben der Angst vor Verurteilung, verständnisloser oder gar mitleidiger Blicke, sind psychische Erkrankungen kein sonderlich geeignetes small talk Thema. Aber hier im Internet sind ja ohne hin alle anonym, also irgendwie zumindest. Mir kam die spontane Idee mein längst vergessenes Blogger-Profil wieder zu reanimieren. Vor 7 (!) Jahren erstellte ich dieses, führte einen (zumindest für damalige) Verhältnisse recht erfolgreichen Fotografieblog und bin jetzt back im game. Wobei sich die coolen Blogger jetzt auf instagram tummeln, ich mich zwar mit vielen Adjektiven identifizieren kann, aber cool sicherlich keines davon ist, ich mir auch nur ein virtuelles Tagebuch anlegen möchte, um wie im Titel bereits angekündigt: "ein wenig Ordnung in mein Gedankenchaos zu bringen." und es nicht Teil meines 5-Jahres-Planes ist, Influencer zu werden. Sicherlich werde ich viel über meine psychische Erkrankung schreiben, die mein Leben momentan sehr beeinflusst und in der Hoffnung, dass das hier vielleicht doch jemand liest, somit meinen Teil gegen die Stigmatisierung beitragen. Zwar fühlt es sich gerade so an, aber ich bin mehr als eine Krankheit, möchte mich nicht nur über diese definieren und werde, sofern ich dies möchte, auch Posts über andere Themen verfassen. 

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